Mentoring: Geheimnisse des Lernens gestern und heute

Mentoring: Geheimnisse des Lernens gestern und heute

Wer erinnert sich nicht an den einst obligatorischen Spruch, der wohl so ziemlich jedem ABC-Schützen vor Augen führte, worum es „ab jetzt“ geht: um nichts geringeres als „den Ernst des Lebens“. Schluss mit Spielen, entdecken, „sinnlosem“ Tun – damit durfte Schule nichts zu tun haben. Wo kämen wir sonst hin? Tatsächlich hat man mittlerweile eingesehen, dass spaßbefreites Lernen nur dazu führt, dass insgesamt sehr viel weniger gelernt wird als gelernt werden könnte. In der Wildnispädagogik bedient man sich entsprechend einer sehr, sehr alten Art der Wissensvermittlung – und maximiert Lernerfolge durch Mentoring.

Mentoring: Was ist das?

Mentoring beschreibt ganz ursprünglich das kindgerechte Lernen innerhalb der Gemeinschaft eines Stammes. In Native-Kulturen rund um den Erdball wird es bis heute angewendet wie vor 10.000 Jahren. Kinder werden dabei nicht in Klassen zusammengefasst, sondern individuell unterrichtet – von jedem Stammesmitglied und orientiert an dem, wofür sich das Kind jeweils wie sehr interessiert. In Native-Kulturen war – und ist das teilweise noch immer – vergleichsweise einfach zu realisieren, denn das Leben in solchen Gemeinschaften spielte sich vorwiegend draußen ab. Vor den Tipis, vor den Behausungen, den Häusern der Menschen. Was das Leben des Einzelnen ausmachte, war für alle allezeit sichtbar – und weckte so die Neugier derer, die von kindlichem Erstaunen erfüllt beobachteten, was die Erwachsenen taten und konnten. Das ebenfalls zu können, Handwerk zu beherrschen, Geschichten erzählen, Jagen, Heilen etc. ist für Kinder – und Lernende aller Altersstufen – die machtvollste Motivation dafür, Fähigkeiten hinzuzugewinnen und zum Nutzen für alle selbst einzusetzen.

Wurzeln des Mentorings

Mentoring bedeutet 1:1 Unterricht – ein Lehrender widmet sich jeweils einem Lernenden. Der Erfolg dieser Art Unterricht erwächst aus der Gemeinschaft und dem Gemeinschaftsverständnis von Native Kulturen. Vor allem bei den Natives in Nordamerika liegt dem auch ein anderes Verständnis von Mutter- und Vaterschaft zugrunde. Kinder „gehören“ hier nicht den Eltern, sondern zur Gemeinschaft. Sie sind ein Geschenk des Schöpfers und werden sowohl den Eltern eines Kindes als auch der Gemeinschaft, in der diese Eltern leben, anvertraut. Mit der Geburt eines Kindes in eine Gemeinschaft erhielten alle den Auftrag, für die Kinder den beschützten und liebenden Rahmen zu halten, in dem sich das jeweilige Kind bestmöglich und zum Besten seiner Selbst (Entfaltung seines vollen Potenzials) und der Gemeinschaft (Nutzung des entfalteten Potenzials) entwickeln zu können. Jedes Mitglied einer Gemeinschaft war zu 100 Prozent dafür mitverantwortlich. Die „Lernziele“ wurden durch das gesamte Leben innerhalb der Gemeinschaft definiert – einschließlich der Traditionen, der Feste und Meetings und der gelebten Werte.

Mentoring baut auf Lernen als ureigenes Bedürfnis

In den alten Gemeinschaften hatten Kinder immer die Möglichkeit, sich frei im Stamm zu bewegen und ihrer Neugier nachzugehen. War es für ein Kind gerade interessant, beispielsweise Steinbearbeitung zu lernen, dann suchte es einen Erwachsenen auf, der sich damit beschäftigte. So wurde der Erwachsene zum Mentor – er teilte sein Wissen und schuf zugleich den Rahmen, in dem das Kind leicht und freudig lernen konnte. Die kindliche Neugier musste dabei nie „absichtlich“ oder „steuernd“ erweckt werden – sie erwuchs ganz von selbst dadurch, dass das Kind sah, wie jemand Stein bearbeitete und daraus wunderschöne und nützliche Dinge erschuf, die das Leben aller bereicherten. Zur Bereicherung des Lebens beitragen zu dürfen, ist ein ureigenes Bedürfnis jedes Menschen (darauf baut heute beispielsweise auch das von dem Psychologen Marshall B. Rosenberg entwickelte Prinzip der Gewaltfreien Kommunikation auf). Kinder wollen lernen, um selbst auch einen Beitrag zum lebenswerten Überleben ihrer Gemeinschaft leisten zu können.

Gutes Mentoring ist eine Kunst

Die große Kunst des Mentorings liegt darin, als Lehrender zu erkennen, wie das einzelne Kind lernt, wie seine ganz individuelle Neugierde erhalten und vergrößert und wie seine Freude, es zu Meisterschaft zu bringen, entfaltet werden konnte. Da jedes Kind anders ist und anders lernt, stellte dies die größte Herausforderung dar. Ein guter Mentor begegnete dem mit diversen pädagogischen Mitteln, die sich durchgehend daran orientierten, dass das Kind Freude am Lernen hatte. Vielleicht setzte sich das eine Kind „nur“ vor den Steinbearbeiter hin und schaute zu. Vielleicht stellte ein anderes Kind viele Fragen, wollte wieder ein anderes schnell selbst Hand anlegen und ausprobieren. „Nicht drängen, sondern zulassen“ könnte gleichsam die oberste Mentoring-Regel lauten. Doch wie auch immer: Mentoring ermöglicht, dass das Kind sein Lernen und seinen Lernweg selbst bestimmte.

Lehrwege im Mentoring

So vielfältig wie die Lernwege der Lernenden sind im Mentoring die Lehrwege des Mentors. Bei den Natives ist hier das Coyote-Teaching besonders beliebt (und erfolgreich). Je nach Lernziel kann es beispielsweise darin bestehen, dass sich der Mentor als unwissend darstellt. Oder dass er Geschichten erzählt, die das Lernziel in eine Metapher oder ein Gleichnis verpacken, das vom Lernenden entschlüsselt werden muss. Der König unter den Mentoren war derjenige, der es schaffte, dass der Lernende, der Mentee, den Eindruck erhielt, alles selbst herausgefunden zu haben. So bereitete der Mentor den Boden dafür, dass der Mentee seine eigene innere Wahrheit herausfand – seine innere Wahrheit über die eigenen Fähigkeiten und das eigene Können, die daraus abgeleitete Wahrheit über sich selbst und das Selbstvertrauen, etwas aus eigener Kraft und eigenem Wissen gemeistert zu haben. In der Essenz weiß ein Mentor nie, was am Ende eines Lernprozesses für den Mentee herauskommt, welche Erkenntnisse er gewinnt und welche Fähigkeiten er erwirbt. Und dennoch ist der Mentor Zeuge und Teil des Erkenntnisprozesses – und damit auch zu einem untrennbaren Teil des Lebens des Kindes geworden.

Mentoring und moderne Pädagogik

Die heutige Pädagogik hat einen Altgriechischen Wortstamm, der „unterweisen“ bedeutet. Unterweisen lässt sich auch mit „kundig machen über etwas“ übersetzen. Deshalb ist jeder in seinem Umfeld ein Mentor – als Mutter oder Vater, als Lehrer, Freund und Kumpel, Peergroup und sogar als Tier oder Pflanze, denn auch sie vermögen zum Lernen zu „verführen“. In dieser Philosophie wird im Wildnismentoring pädagogisch gearbeitet. Auch hier erkennt ein guter Pädagoge oder Mentor, wie jemand lernt – ganz gleich, ob es sich dabei um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Im Wildnismentoring spielt das Alter des Lernenden keine Rolle. Ein Umstand, der für viele Mentees zunächst ungewohnt, sehr bald aber willkommen und im höchsten Grade nährend und entfaltend ist, was das zu entfesselnde Potenzial des Einzelnen betrifft. Auch Wildnismentoren verfolgen ein Lehrprogramm – dieses wird daher auch in der Wildnispädagogik Ausbildungen vermittelt. Allerdings gibt es zwei große Unterschiede: normalerweise übernimmt ein Mentor die Begleitungsverantwortung für einen langen Zeitraum. So kann sich der Lernende immer wieder an den Mentor wenden. Der Lernende wächst dadurch in eine erweiterte Familie hinein. Zum anderen erfolgt das Lehren nach dem Modell des Medizinrades, dass hier „Art of Mentoring“ genannt wird. So bewegt sich der Mentor mit dem Mentee gemeinsam durch das Medizinrad, und das Lehren und Lernen folgt dem natürlichen Lauf des Erwerbs von Wissen und Fähigkeiten, den die Natives über Jahrhunderte erkannt und weiterentwickelt haben.

Nach dem Mentoring ist vor dem Mentoring

Ein Mentor versucht, der Neugier des Mentees zu folgen – dennoch kann ein guter Mentor auch Neugierde wecken und lenken. Falls jedoch die Aufmerksamkeit des Mentees nach einiger Zeit auf ein anderes Gebiet wandert, kennt der Mentor Methoden, um „sein“ Thema in einer Art und Weise zu beenden, das dem Mentee ermöglicht, zu einem späteren Zeitpunkt wieder an das Gelernte anzuknüpfen. Der Mentor achtet immer darauf, dass der Mentee das Medizinrad durchläuft, bevor er sich einem neuen Gebiet zuwendet.

Wenn Sie sich intensiver mit der Kunst des Mentorings auseinandersetzen möchten, Mentoring-Fähigkeiten entwickeln und sich neue pädagogische Zugänge zum Lehren und Lernen erschließen wollen, sind Sie vielleicht in unserem Kurs Wildnispädagogik Ausbildung richtig. Schauen Sie mal rein. WIR – Kinder der Erde freuen uns auf Sie!

Text: Dr. Barbara Deubzer, Foto: Pixabay

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