Zeremonien – und was wirklich dahinter steckt

Zeremonien – und was wirklich dahinter steckt

Sie sind so tief in Vergessenheit geraten, dass sie manchem bisweilen geradezu suspekt erscheinen: waren Zeremonien einst essenzieller Bestandteil jeder Gemeinschaft, scheint die Wissensgesellschaft sie längst nicht mehr zu brauchen. Sie glaubt, es mittlerweile besser zu wissen, auch wenn sie lieber nicht fragt, worin dieses „es“ besteht. Vermutlich, weil die Antwort nur „ich weiß es nicht“ lauten könnte, denn Dinge, die zutiefst geistig bzw. spirituell sind, lassen sich weder messen noch beweisen – und erforschen kann sie nur jeder für sich selbst. Das Erforschen wiederum hat mit Erfahrung zu tun, weshalb wir von WIR – Kinder der Erde umso dankbarer sind, dass einige Teilnehmer unseres ersten Zeremonien-Seminars bereit waren, ein paar ihrer Erfahrungen zu teilen.

Eine Zeremonie ist … etwas ganz anderes

Bei dem Wort „Zeremonie“ haben die meisten vermutlich ein Bild vor Augen, das ziemlich genau dem entspricht, was der Duden definiert: demnach soll eine Zeremonie eine „in bestimmten festen Formen bzw. nach einem Ritus ablaufende feierliche Handlung“ sein. Unter „Ritus“ wiederum wird die „hergebrachte Weise der Ausübung einer Religion“ verstanden, ebenso ein „Brauch, bzw. eine Gewohnheit bei feierlichen Handlungen“. Ein „Ritual“ schließlich beschreibt nach dem Duden die „Gesamtheit der festgelegten Bräuche und Zeremonien eines religiösen Kultes“, ein „Zeremoniell“ und „wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung“. Wem der Kopf vor lauter Wörtern noch nicht schwirrt, findet gemäß Duden Ritus, Ritual, Zeremoniell und Zeremonie in einen Topf geworfen. Und wer schon immer wissen wollte, was eine Zeremonie nicht ist: Sie ist genau das nicht, was im Duden steht.

Aber was ist eine Zeremonie dann?

Wenn eine Zeremonie weder ein Ritus, noch ein Ritual ist und auch nichts mit Religion oder religiösen Kulten zu tun hat, was lässt sich dann darunter verstehen? Nikias Karoulis beschreibt es so: „Zeremonien sind für mich die Werkzeuge, die mir ermöglichen, mein Leben in der für mich besten Weise zu führen. Sie eröffnen mir einen geschützten Raum, aus dem ich Kraft schöpfe, einen Raum, der mir hilft, mich auf das zu besinnen, was mir in meinem Leben wichtig ist.“ Zeremonien bauen auf uraltem Wissen auf und bergen die gesamte Weisheit der Menschheit, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit des Einzelnen. Dass sie so leicht mit Ritualen und ähnlichem verwechselt werden, liegt daran, dass sie über bestimmte Abläufe und Handlungen weitergegeben werden. Anders als beim Ritual spielen Ablauf und Handlung jedoch eine untergeordnete Rolle, dienen nicht in erster Linie sich selbst. Von Bedeutung ist das, was mit einer Zeremonie bezweckt wird – und das ist immer anders, bei jeder Zeremonie, bei jedem, der eine Zeremonie leitet und bei jedem, der an einer Zeremonie teilnimmt. Eine Zeremonie folgt zwar einer scheinbaren äußeren Ordnung, ist in sich aber vollständig individuell und gänzlich unabhängig von jeder Form von „Glauben“.

Zeremonien verbinden alle und alles

Solange Reineck ist während ihrer Wildnispädagogik-Ausbildung bei WIR – Kinder der Erde mit Zeremonien in Berührung gekommen. „Ich wusste nicht, dass Spiritualität eine Rolle in der Wildnispädagogik spielt“, erinnert sie sich, „ich dachte, es geht rein ums ‚draußen sein‘, um Naturhandwerk, Botanik und Biologie, um Ökologie, Überlebenstraining“. Dass dann auf einmal auch Zeremonien auf dem Programm standen, hat sie überrascht. „Zuerst konnte ich gar nichts damit anfangen, Spiritualität war für mich nur etwas, das meine Mutter lebt.“ Dennoch war ihr wichtig, offen zu sein und keine Vor-Urteile zu fällen. „Nur zu oft glaubt man, über die Dinge Bescheid zu wissen, nur weil man irgendwo oder irgendwann einmal etwas darüber gehört oder gelesen hat. Tatsächlich aber weiß man gar nichts. Man fängt erst an, zu wissen, wenn man sich den Dingen aussetzt und sie erlebt, sie kennen lernt und selbst erfährt, was sie mit einem machen. Was sie anstoßen und (auf)klären, in Gang setzen – und oft auch heilen.“ Solange Reineck kann verstehen, dass viele Menschen Berührungsängste haben, wenn sie an Dinge denken, die gemeinhin als spirituell angesehen werden. Was man nicht kennt, macht Angst, vor allem, weil so viel Halbwissen kursiert, gerade über das, was spirituell oder Spiritualität sei.

„Deshalb ist es so wichtig, mit Ältesten zu sprechen und sie dadurch zu ehren, dass man ihnen zuhört“, betont Nikias Karoulis. „James Medicine Tree Gilmore, der zusammen mit Barbara Deubzer das Zeremonien-Seminar geleitet hat, ist ein Ältester, ein Pfeifenträger, in den Augen der amerikanischen Ureinwohner also jemand, dem höchste Verantwortung obliegt in Bezug auf das, was er tut und lehrt. Ich habe vom Seminar viel für mich mitnehmen können – Wissen, Weisheit, Gemeinschaft und persönliche Weiterentwicklung – am wertvollsten war für mich aber, Jim zu treffen. Zu sehen, dass es seine Erfahrungen sind, die ihn zu diesem großartigen Mann gemacht haben, der er ist. Ermutigt zu werden, meinen eigenen Weg weiterzugehen, dankbar zu sein für alles, was mir widerfährt und begegnet, auch dadurch, dass Menschen wie Jim ihre Erfahrung und ihr Wissen teilen.“

Zeremonien wirken. Ganz individuell.

„Vielleicht sind Zeremonien so kraftvoll, weil sie helfen, Bedürfnisse aufzuspüren“, meint Solange Reineck, „also das zu finden, was man wirklich braucht. Von mir weiß ich, dass ich achtsam mit anderen bin, mit mir selbst hingegen kaum. Dadurch, dass wir im Seminar mit Jim nicht nur etwas über Zeremonien gelernt, sondern an verschiedenen Zeremonien teilgenommen, Spiritualität erlebt und über unsere Erfahrungen gesprochen haben, bin ich auf völlig neue Weise mit mir selbst in Kontakt gekommen. In Dingen, die für mich bislang mit großer Trauer und Traurigkeit verbunden waren, erinnere ich mich plötzlich an das, was gut und lebendig war. Ich kann Lachen zulassen und über meinen Verlust reden, ohne gleich wieder traurig zu werden. Das konnte ich bisher nicht.“

In Fluss gekommen ist auch einiges bei Sybille Lehner, die beim Seminar zum ersten Mal mit Zeremonien Bekanntschaft geschlossen hat. „Ich denke, dass Zeremonien helfen, zu innerer Freiheit zurückzufinden“, sagt sie. „Ich hätte mich fast nicht beim Seminar angemeldet, weil fünf Tage für mich als Mutter doch ganz schön lang sind. Aber dann habe ich es doch gemacht – und bin mir selbst so dankbar dafür.“ Vieles hat sie ausprobiert, in viele Bereiche hineingeschnuppert, schon allein aus ihrem beruflichen Interesse als Coach heraus. Das Zeremonien-Seminar mit Jim Medicine Tree hat ihr einen ganz neuen Blickwinkel eröffnet.

Vertrauen entwickeln, loslassen, nichts erzwingen

„Persönlich stehe ich gerade am Ende einer Veränderung, die in meinem Leben stattgefunden hat“, sagt Sybille Lehner. „Alles im Leben ist Veränderung, und ich habe das, was kommt, schon immer mit Optimismus und Freude angenommen. Der aktuellen Veränderung in meinem Leben fehlte aber bislang noch so ein bisschen der ‚letzte Schliff‘, und was den betrifft, so ist mir im Rahmen des Zeremonien-Seminars etwas ganz Zauberhaftes passiert.“ Zu tun hat das mit einer Maus. „Sie kam zu mir, ganz nah und hat mich angesehen, eine ganze Weile. Ich habe mir erst nicht viele Gedanken darüber gemacht. Später habe ich herausgefunden, dass die Maus dafür steht, alles ganz genau wissen zu wollen und vor einer Entscheidung jedes Detail bis ins Kleinste zu prüfen. Das passt zu mir, und ich sehe das durchaus als Stärke. Jede Stärke ist zugleich aber auch eine Schwäche. Die der Maus ist, leicht den Blick für das große Ganze zu verlieren, weil sie zu nah an den Dingen dran ist. Auch das passt zu mir.“ Und es bedeutet etwas. „Vielleicht bin ich trotz all meiner Erfahrung immer noch ein wenig zu ungeduldig mit mir selbst, sage mir ‚mach, entscheide, fang an‘. In der Essenz blockiert Ungeduld jedoch nur. Obwohl diese kleine Maus vieles bedeuten kann – auch vollkommen gegensätzliches von sieh noch genauer hin bis tritt einen Schritt zurück – hat sich dadurch, dass ich über sie nachgedacht habe, etwas in mir gelöst. Ich merke, dass ich Vertrauen entwickle und loslassen kann, mich davon entferne, etwas erzwingen zu wollen. Der Witz ist, dass ich mir vermutlich genau das raten würde, wenn ich mich selbst coachen würde. Als nächstes möchte ich unbedingt an der Schamanischen Reise teilnehmen, die WIR – Kinder der Erde anbietet. Dabei geht es unter anderem darum, sein Krafttier zu finden – und ich glaube, das verhilft mir auch noch einmal zu ganz überraschenden Sichtweisen.“

Außerdem möchte sich Sybille Lehner regelmäßig mit anderen Seminar-Teilnehmern treffen, um Zeremonien zu üben. Dabei geht es ihr und den anderen nicht in erster Linie darum, alle Abläufe und Handlungen korrekt auszuführen, wie es bei einem Ritual der Fall wäre. Abläufe und Handlungen sollten richtig sein, um den Ahnen, den Ältesten und Lehrern Respekt zu erweisen. Das, was eine Zeremonie im Inneren ausmacht, ist dennoch sehr viel schwieriger zu erreichen und bedarf sehr viel mehr Übung. Der Grund: in einer Zeremonie vereinen sich Bitte und Gebet in dem, was den wahren Charakter von beidem ausmacht und eine innere Haltung erfordert, die aufmerksam, achtsam, ergebnisoffen, erwartungslos, bescheiden, dankbar und wertschätzend gegenüber allem ist, was geschieht – und was nicht geschieht. Manchmal erfüllt sich, was wir uns wünschen, aber uns wird nichts geschenkt, nur weil wir darum gebeten haben. Und: verdächtig oft geschieht, was wir weder gewollt, noch gewünscht haben, und doch stellen wir im Rückblick nur allzu oft fest, dass das, was passiert ist, genau das war, was wir von Anfang an brauchten. Woraus könnten sich Vertrauen, Gelassenheit und innerer Frieden besser und nachhaltiger speisen?

Zeremonien als spiritueller Weg

Zeremonien setzen etwas frei, das für die Augen unsichtbar ist. Zugleich geben sie den Raum, in dem dieses Unsichtbare Verbindungen eingehen kann. „Zeremonien zeigen auf, wie Spiritualität gelebt werden sollte“, sagt Nikias Karoulis, „deshalb finde ich wichtig, sie zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens zu machen, auch zu einem festen Bestandteil von Gemeinschaften. Ich selbst praktiziere in meinem Alltag eine ganze Reihe von kleineren und größeren Zeremonien, manche täglich, andere in gewissen Abständen. Aus meiner Sicht ist es die Spiritualität, die eine Gesellschaft zusammenhält – wirklich zusammenhält – weil es dabei auch darum geht, das eigene und das Eingebundensein von allen und allem in die Welt, in der wir leben, zu begreifen.“ Die Welt, in der wir leben besteht in diesem Verständnis nicht in dem, was Ökologie und „Umwelt“ beschreiben. Sie besteht in dem, was unsichtbar ist, was Geist ist und allem innewohnt, was existiert, ganz gleich in welcher Form – als Mensch, Tier, Pflanze, vermeintlich unbelebtes Ding wie Stein oder Fels oder Wasser und als alles und jedes, das gelebt hat oder noch nicht geboren wurde. Geist ist in diesem Sinne also nicht etwa das, was man aus Gespenstergeschichten oder Hollywoods Horrorstreifen kennt. Die Bedeutung von Geist als Spirit in der Begrifflichkeit der Spiritualität bezieht sich auf den Geist bzw. die Geister als Bewusstsein oder Bewusstheit/en. Spiritualität bedeutet, anzuerkennen, dass alles von Geist durchdrungen ist – eine Auffassung, der sich mit dem Panpsychismus sogar ein Wissenschaftszweig widmet, der der Physik entsprungen ist.

Zeremonien sind kraftvolle Begleiter

Zeremonien sind die kraftvollsten Begleiter eines jeden, der sich darauf einlässt, einem spirituellen Weg zu folgen. „Für mich ist der spirituelle Weg eine individuelle, im besten Sinne eigenartige Reise in mein Inneres“, so Nikias Karoulis, der als gebürtiger Grieche mit der deutschen Sprache bisweilen präziser umgeht als viele Deutsche selbst. „Ich weiß, dass das Wort eigenartig zumeist ausdrücken soll, dass etwas absonderlich, seltsam, skurril oder sogar verkehrt ist. Eigentlich bedeutet es aber etwas ganz anderes. Der Dichter Erich Fried hat das sehr schön auf den Punkt gebracht, indem er schrieb ‚eigenartig, wie das Wort eigenartig es fast als fremdartig hinstellt, eine eigene Art zu haben‘. Eigenartig ist der spirituelle Weg, weil ich mich zwar von vielem inspirieren lassen kann. Wie ich die Dinge aber sehe und was für mich wahr wird, ist jedoch etwas, das nur ich allein in meiner ganz eigenen – eben eigenartigen – Weise erleben kann.“ Es mag sein, dass der spirituelle Weg nie direkt ist. Dass er nie der kürzeste ist, und sich auch nicht beschleunigen lässt. Dass er von einfach ebenso weit entfernt ist, da persönliche Entwicklung nur außerhalb unserer Komfortzone stattfinden kann. Dennoch ist es der spirituelle Weg, der bestimmt, wer man ist – und das nicht erst am Ende des Weges, sondern an jeder beliebigen Station unterwegs.

Zeremonien der Achtsamkeit – Fazit zum Seminar

„Beim Zeremonien-Seminar hier und da Anteil an den Wegen der anderen Teilnehmer haben zu dürfen, hat mich sehr berührt“, sagt Nikias Karoulis. „Jeder Mensch und jeder Weg so einmalig und so wunderschön. Für mich ist es ein großes Geschenk, wenn ich anderen auf diese Weise urteilsfrei begegnen kann.“ Dabei hätten die Seminarteilnehmer unterschiedlicher nicht sein können, wie auch Solange Reineck festgestellt hat. „Der wertschätzende, offene und auch vertrauende Umgang miteinander, zu dem wir innerhalb kürzester Zeit gefunden hatten, macht für mich viel von dem aus, was ich vom Seminar mitnehme“, sagt sie. „Jeder konnte sich in seiner Eigenartigkeit zeigen, musste sich nicht in ein Korsett stecken lassen, durfte nach dem Motto handeln ‚alles kann, nichts muss‘. Dem begegnet man in derart konsequenter Weise nicht oft.“ Vielleicht, weil die Vermittlung von Wissen über etwas verhindert, dass Erleben, Erfahren und Begegnung überhaupt möglich sind. „Über die Zeremonien sind wir in einen so besonderen Kontakt getreten, dass ich immer noch staune“, meint auch Sybille Lehner. „Aber genau darin bestehen spirituelle Verbindungen eben auch – zwischenmenschlich, zwischen den Dingen, zwischen allem.“

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Text: Judith Böhnke, Fotos: Pixabay

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