Neurosensorische Übungen – was hat das mit Frieden zu tun?

Neurosensorische Übungen – was hat das mit Frieden zu tun?

Wer sich mit Frieden beschäftigt, wendet sich im Allgemeinen philosophischen Erwägungen zu, forscht in der Geschichte oder beschäftigt sich mit Persönlichkeiten, deren Namen untrennbar mit Frieden in Zusammenhang stehen. Gandhi zum Beispiel, Martin Luther King oder Jesus. Bei WIR – Kinder der Erde reicht uns das aber nicht. In unserem Seminar Frieden leben gehen wir ein ganzes Stück weiter und verfolgen einerseits einen sehr spirituellen Ansatz – mit „Tohidu“, dem „Weg des Friedens“ nach Auffassung der amerikanischen Ureinwohner. Und wir verfolgen einen sehr somatischen Ansatz. Denn für unseren Körper als eigenständiges, physisches Wesen ist es nicht so leicht wie für unseren Geist, Frieden zu leben. Unser Körper bleibt diesbezüglich sogar oft auf der Strecke. Und wir merken davon nichts.

Warum merken wir es nicht?

Das hängt mit der Beschaffenheit unseres Nervensystems zusammen. Jeder weiß, dass dieses in mehrere „Teile“ aufgeteilt ist: Gehirn und Rückenmark bilden das Zentralnervensystem, und alles, was nicht Gehirn oder Rückenmark ist, bildet das „periphere Nervensystem“ (peripher = am Rande liegend). Das periphere Nervensystem unterteilt sich seinerseits in das somatische Nervensystem (willentlich beeinflussbar – z. B. Bewegungen der Gliedmaßen) und das autonome Nervensystem (unabhängig von unserem Willen – z.B. Peristaltik des Darms). Neben den Organfunktionen werden über das autonome Nervensystem ebenso Hormonausschüttungen gesteuert – und auch unsere sogenannten „Überlebensprogramme“, die allgemein als Kampf- oder Flucht-Reaktionen bekannt sind und zu denen auch noch eine Nummer 3 und eine Nummer 4 gehören: Freeze (Erstarrung / Betäubung) und Faint (Ohnmacht / „Totstell-Reflex“). Für Kampf und Flucht ist der Sympathikus zuständig, der uns „aktiviert“. Für Freeze und Faint ist der Parasympathikus zuständig, der uns „beruhigt“ – beide – sowohl Sympathikus als auch Parasympathikus – gehören zum autonomen Nervensystem.

Was allgemein wenig bekannt ist: auch der Parasympathikus unterteilt sich nochmal in 2 Systeme. Beide „beruhigen“, aber auf unterschiedliche Weise. Das eine System sorgt für die Erstarrung, Betäubung und Ohnmacht, wenn wir in schlimme Lebensgefahr geraten – etwa von einem Beutegreifer angefallen werden oder uns lebensgefährlich verletzen. Das andere System sorgt für die „schöne“ Beruhigung, die eintritt, wenn um uns herum alles sicher ist. Und diese Art des Beruhigt-Seins brauchen wir, um Frieden leben zu können.

Frieden leben: wie kann man das nicht können?

Das autonome Nervensystem kann das nicht oder nicht gut genug gelernt haben. Und tragischerweise ist das sogar bei den meisten Menschen der Fall, vor allem bei denen, die in „westlich“ orientierten Gesellschaften leben. Wer sich schon einmal angeschaut hat, wie Naturvölker mit ihren Familien, ihren Müttern, Babys und Kindern umgehen, wird immense Unterschiede zu unserer „Lebensweise“ feststellen, selbst dort, wo in den Familien alles für die Kleinsten getan wird. Aber man braucht, um ein Kind zu begleiten, eben ein ganzes Dorf, wie es so schön heißt. Ein Dorf zumal, in dem jeder Frieden lebt. Und das haben wir nicht. Bei uns steht vielmehr jeder unter irgendeinem Stress.

Hinzu kommt, dass wir Stress speichern, vorzugsweise dann, wenn uns – insbesondere als Baby und Kind – mehr oder weniger unangenehme Dinge passieren, die wir nicht wirklich verarbeiten können. Das können ärztliche Behandlungen und Operationen genauso sein wie Unfälle, eine zu frühe Geburt, eine Krankheit oder Scheidung der Eltern, Überforderung, Leistungsdruck, Mobbing oder auch Missbrauch und Gewalt. Außerdem können wir Stress „erben“ – Stichwort transgenerationale Traumata. Selbst dann, wenn wir unsere Erlebnisse als Erwachsene irgendwann „verwunden“ haben, kann das Erlebte in uns immer noch gespeichert sein und bewirkt, dass wir – ohne es zu wollen (autonom) – nicht angemessen auf bestimmte Auslöser reagieren.

Wenn man genau hinschaut, entdeckt man oft Hinweise darauf, dass im Nervensystem des Betroffenen uralter Überlebensstress steckt – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn auch der Körper speichert Erinnerungen, sogar solche, zu denen wir gar keine Bilder haben und glauben, wir erinnerten uns nicht. Oder glauben, „da wäre nie etwas gewesen“. Tatsächlich ist da mehr als uns lieb sein kann, denn wenn Überlebensstress im System feststeckt, kann unser Körper nicht anders, als auf kleinste Auslöser so zu reagieren, wie er es getan hat, als ihm das „mehr oder weniger Unangenehme“ zugestoßen ist. Daher kommen sowohl das Überreagieren (Kampf- oder Flucht-Reaktion) als auch das „viel zu cool bleiben“ (nicht berührt werden, Freeze-Reaktion). Darin manifestiert sich die eigentliche Bedeutung von Dauerstress. Dauerstress hat nicht zwingend etwas damit zu tun, dass einer ständig viel zu tun hat. Es bedeutet, dass sich sein Körper permanent, zu oft und/oder zu lange im Kampf- oder Flucht-Modus befindet – oder in einem funktionalen Freeze- bzw. Erstarrungs-/Betäubungs-Zustand.

Kampf, Flucht und Freeze sind nicht Frieden

Dass Kampf und Flucht kein Frieden sind, liegt auf der Hand. Wir merken das auch an den Gefühlen, die uns in diesen Zuständen sprichwörtlich bewegen. Deshalb versuchen wir, diese Gefühle loszuwerden. Ruhig können wir dabei allerdings auch dann werden, wenn das nicht funktioniert. Wenn es uns also nicht gelingt, die „Kampf- oder Flucht-Gefühle“ zu besänftigen. Denn wenn das, was diese Gefühle auslöst, dableibt, egal, was wir machen oder nicht machen, erreichen wir nicht, dass sich unsere Situation bessert. Und wenn unser autonomes Nervensystem diese „Erkenntnis“ hat, schaltet es automatisch in den Freeze-Zustand – eben jenen Zustand der Erstarrung und der Betäubung. Funktional“ ist ein Freeze-Zustand, wenn wir nicht gleich zusammenklappen wie die Gazelle in den Fängen des Löwen, sondern weiter funktionieren. Ein funktionaler Freeze-Zustand bewirkt, dass wir weitermachen können, obwohl wir eben nicht mehr können. Die Auswirkungen gehen überall hin, in unsere „Psyche“, die Muskulatur, die Faszien, den Hormonhaushalt, die Neurotransmitter etc.

Wenn man weiß, worauf man achten muss, kann man die Auswirkungen auch im Alltag, „im Kleinen“ beobachten. Aus „Unachtsamkeit“ unterlaufen einem Fehler. Man ist „vergesslich“, muss sich alles aufschreiben. Man zieht sich ständig kleine Verletzungen zu, etwa dadurch, dass man stolpert, sich mit dem Gemüsemesser schneidet, sich den Kopf stößt. Partner beschweren sich darüber, dass man „nicht zuhört“ oder dass sie einem das und das „schonmal gesagt“ haben. Man entdeckt eine festgesaugte Zecke und hat ihr Krabbeln nicht gespürt – obwohl Zecken erstmal an die 12 Stunden auf einem herummarschieren, ehe sie „beißen“.

Frieden leben: „Gedanken ändern“ reicht nicht

In einem funktionalen Freeze-Zustand „fühlen“ wir uns ruhig, sind sogar entspannt, aber nicht auf die Weise, die für unser System gesund und wünschenswert wäre („alles sicher“). Denn hinter der emotionalen Abschottung, die jeden Freeze-Zustand kennzeichnet, laufen die Kampf- / Flucht-Reaktionen auf Hochtouren weiter. Für unseren Körper ist es so wie Vollgas mit angezogener Handbremse fahren für ein Auto. Nicht eben förderlich für Werterhalt und Nachhaltigkeit. Und alles andere als Frieden. Was unser Kopf diesbezüglich denkt, erkennt und sagt, spielt keine Rolle. Denn er hat keinen Zugriff auf das autonome Nervensystem – und kann nicht unmittelbar beeinflussen, was da abgeht.

Deshalb genügt es nicht, „sich nur mit Positivem zu beschäftigen“, seine „Gedanken zu ändern“ oder „zu manifestieren“, um Frieden zu leben. Gerade um manifestieren zu können, muss das gesamte System an einem Strang ziehen. Auch das autonome. Der Körper muss in der Lage sein, mit in den Frieden zu gehen. Und das kann er nicht, wenn er autonom überreagiert oder sich selber abschottet. Mit in den Frieden gehen kann er erst, wenn er gelernt hat, was man „Selbstregulation“ nennt.

Was ist „Selbstregulation“?

Selbstregulation ist die Fähigkeit, nach einem belastenden Ereignis schnell (also binnen weniger Minuten) und automatisch – autonom – wieder in den harmonischen Zustand zurückzugelangen, der auf „alles ist sicher“ beruht. Selbstregulation ist etwas anderes als Selbstbeherrschung, denn Selbstbeherrschung besteht in einer Willensanstrengung, Selbstregulation kann man nicht per Willensanstrengung herbeiführen. Sie geschieht von allein – wenn sie geschieht. Wildtieren sichert die Fähigkeit zur Selbstregulation das Überleben und ist der Grund, warum Wildtiere keine Traumata erleiden und auch keine Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) entwickeln. Sie leben in Frieden – auch dann, wenn sie von Beutegreifern umgeben sind. Sie erkennen, wann sie auf der Hut sein müssen und wann der Löwe nur spazieren geht. Und wenn er nur spazieren geht, regen sie sich nicht auf, weil nichts kampf- oder fluchtmäßiges in ihrem autonomen Nervensystem passiert. Der Slogan „Rewild your Heart“ („Verwildere“, „Verwildere Dein Herz“) zielt hinter allen erlernbaren Überlebensstrategien in der Essenz genau auf das Erlangen einer „wildtierhaften Selbstregulationsfähigkeit“ ab. Denn ohne die, lebt man draußen in der Natur in ständiger, unterschwelliger (abgeschotteter) Angst – vor Fressfeinden, Raubfeinden, feindlichen Parasiten, feindlichem Wetter, feindlichem Ressourcen-Aufkommen usw. Man kommt nicht zur Ruhe – nicht in den Frieden – aber genau das macht das Leben „in der Wildnis“, macht das Naturleben aus.

Warum braucht Frieden Selbstregulation?

Weil wir nicht nur das in die Welt geben, was wir tun, sondern auch das, was wir denken und fühlen – ganz gleich, ob uns bewusst ist, was das wirklich ist oder nicht. Wir sind mit allem, was uns umgibt, in ständigem Kontakt, in ständiger Berührung. Und wir übertragen alles von uns in den „Äther“ oder wie auch immer man das nennen möchte. In dem Raum um uns herum ist nicht nichts, sondern Information. Und wir sind Information. Und wenn wir uns im Kampf befinden – im Krieg, im inneren Krieg – geben wir genau das in die Welt. Dieser Vorgang wird Co-Regulation genannt, läuft ebenfalls autonom und automatisch ab und ist nicht willentlich beeinflussbar. Man kann Co-Regulation messen. Es ist nichts „Psychisches“ und auch nicht spirituell. Es ist somatisch.

Frieden ist erst dann vollkommen, wenn der Körper mitmacht und Geist, Seele und Körper an einem Strang ziehen. Und erst dann ist Frieden das, was wir in die Welt geben, indem wir es leben und nur dadurch, dass wir existieren.

Frieden leben – Selbstregulation lernen

Selbstregulation bedeutet die Identifikation mit dem eigenen Körper aufgeben und den Körper als etwas erkennen, das man hat – wie wahrscheinlich Wildtiere ihren Körper wahrnehmen. Und diesem Körper – diesem autonomen Nervensystem – bewusst zeigen, was es braucht, um das Gewünschte tun zu können. Das erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen und Selbstempathie und ein bisschen Hintergrundwissen. Unterstützt durch praktische, neurosensorische Übungen, die uns westlichen Menschen den Weg des Friedens – Tohidu – erst ebnen.

Und genau deshalb haben wir sie in unser Seminar Frieden leben aufgenommen.

Text: Judith Böhnke, Foto: Pixabay

© 2020 Wir-Kinder der Erde | Alle Rechte vorbehalten | WepsMedia Agentur